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Foto: IW Köln

Fünf Fragen an Sibylle Stippler

In den kommenden Wochen dreht sich bei uns alles um den Arbeitnehmermarkt!  Führungskräfte Deutschlands führender Familienunternehmen verraten uns exklusiv, wie sie in der aktuellen Marktsituationen Bewerber:innen begeistern und gewinnen wollen.

Doch auch unabhängige Expert:innen aus Wissenschaft und Gesellschaft kommen bei uns zu Wort.

In diesem Interview erklärt Sibylle Stippler vom Institut der Deutschen Wirtschaft, wie man dem Fachkräftemangel mit gesteigerter Produktivität effektiv begegnen kann und wie es Arbeitgebern gelingen kann, Angestellte davon zu überzeugen lange im Job zu bleiben.

Das ist Sibylle Stippler

Sibylle Stippler ist Leiterin des Clusters Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln). In dieser Funktion ist sie an der Untersuchung des Arbeitsmarktes und der Veröffentlichung diverser Studien und Fachliteratur regelmäßig beteiligt.

 

Welche Auswirkungen hat der Fachkräftemangel auf betroffene Unternehmen in den Bereichen Produktivität, Qualität und Innovationsfähigkeit schon heute?

Der Fachkräftemangel hat bereits heute spürbare Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Mit rund 630.000 unbesetzten Stellen im Jahresdurchschnitt 2022 stellt er eine enorme Herausforderung für die deutsche Wirtschaft dar (KOFA Kompakt 2/2023). Trotz einer schwächeren Konjunktur fehlen nach wie vor qualifizierte Fachkräfte in vielen Wirtschaftsbereichen, was dazu führt, dass Unternehmen ihre offenen Stellen nicht besetzen können.

Diese Lücke hat weitreichende Konsequenzen: Unternehmen müssen Aufträge ablehnen, Investitionen in Weiterbildung verschieben und Innovationsprojekte auf Eis legen. Gleichzeitig steigen die Kosten für Rekrutierung und Beschäftigung, während ungenutzte Wachstumspotenziale bestehen bleiben. Der Fachkräftemangel beeinträchtigt somit die Fähigkeit der Unternehmen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen und sich in den Bereichen Innovation, Produktivität und Qualität weiterzuentwickeln.
 

Welche langfristigen Probleme ergeben sich für Unternehmen aus einem Arbeitnehmermarkt?

Vor dem Hintergrund von vier disruptiven Trends – Demografie, Digitalisierung, Dekarbonisierung und De-Globalisierung – ist zu erwarten, dass sich der Fachkräftemangel weiter zuspitzen wird. Die demografischen Veränderungen werden in den kommenden Jahren ihre volle Wirkung entfalten: Das Ausscheiden der geburtenstarken Baby-Boomer-Generation aus dem Arbeitsmarkt wird die bestehenden Fachkräfteengpässe verschärfen und voraussichtlich zu neuen Engpässen führen. Gleichzeitig erfordert die digitale Transformation spezialisierte Fachkräfte, was zu einer erhöhten Nachfrage in allen Branchen nach IT-Kompetenz geführt hat. Der Wettbewerb um diese Fachkräfte hat stark zugenommen. Die Entwicklungen in Richtung Dekarbonisierung und De-Globalisierung erhöhen ebenfalls den Bedarf an Fachkräften in bestimmten Berufsbereichen. Diese Trends verstärken den Wettbewerbsdruck zwischen Unternehmen um gut ausgebildete Fachkräfte. Personalengpässe haben auch negative Auswirkungen auf die verbleibenden Mitarbeitenden. Sie müssen oft zusätzliche Arbeitslasten bewältigen, was zu Überstunden und einer verringerten Arbeitszufriedenheit führen kann. Laut einer Studie des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA Kompakt 10/2023) suchen bereits ein Drittel der betroffenen Beschäftigten regelmäßig nach alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund dieser Belastungen.
 

Gibt es für Unternehmen auch Chancen? Und wenn ja, welche?

Der Fachkräftemangel bietet die Gelegenheit für eine grundlegende Umgestaltung der Arbeitswelt – eine Transformation, die längst überfällig ist. Winston Churchill soll einmal gesagt haben: "Never waste a good crisis." Wer seine Perspektive ändert, kann Potenziale nutzen: Die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bieten langfristige Lösungen, um Fachkräfte von repetitiven und gefährlichen Tätigkeiten zu entlasten (sogenannte 3d-Jobs: dumb, dirty, dangerous) und die Produktivität zu steigern. Allerdings erfordert dies anfängliche Investitionen.

Unternehmen können von Chancen profitieren, indem sie Arbeitsbedingungen schaffen, die ältere Arbeitnehmer dazu ermutigen, länger motiviert und fit im Beruf zu bleiben. Ähnliches gilt für attraktive Rahmenbedingungen, die es Eltern ermöglichen, Familie und Beruf in Einklang zu bringen. Teilzeitarbeit in Führungspositionen, Job-Sharing und effektive Homeoffice-Modelle sind nur einige Ansätze, um offene Stellen zu besetzen. Eine weitere Option liegt in der gezielten Weiterbildung: Dadurch können interne Talente entwickelt und potenzielle Kandidaten angesprochen werden, die vielleicht noch nicht perfekt in eine Stelle passen, aber das Potenzial dazu haben. Es ist ebenso wichtig, dass gesellschaftlich anerkannt wird, dass Migration (sofern regulär) nicht das Problem, sondern ein Teil der Lösung darstellt.
 

Gibt es Unternehmen oder Branchen, die besser positioniert sind, um mit dem Fachkräftemangel umzugehen?

Unternehmen, die bereits mitarbeiterorientiert führen und in ihre Arbeitgeberpositionierung investieren, sind für Arbeitnehmende attraktiver. Auch das Image eines Unternehmens und/oder einer Branche haben Einfluss darauf, wie viele Bewerbungen eingehen. Familienunternehmen haben zum Beispiel den Ruf, traditionell besonders sichere Arbeitsplätze zu bieten. Ebenso haben diejenigen Betriebe Wettbewerbsvorteile, die bereits Automatisierungspotenziale erschlossen haben. 
 

Welche Kompetenzen und Fähigkeiten sind für Geschäftsführer:innen und Führungskräfte in der aktuellen Marktsituation besonders erforderlich, um Bewerber:innen für sich einzunehmen?

Die Anpassung an den Arbeitnehmermarkt erfordert die Fähigkeit, flexibel auf veränderte Bedingungen zu reagieren und ein Gleichgewicht zwischen den betrieblichen Anforderungen und den Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu finden. Dazu zählt eine ehrliche Bewertung der Stärken und Schwächen als Arbeitgeber. Dieser Prozess des Employer Brandings beginnt mit einer Analyse, bei der alle Mitarbeitenden einbezogen werden sollten. Das Ziel: eine authentische und attraktive Arbeitgebermarke zu etablieren, die im täglichen Betrieb spürbar wird.

Investitionen in die Arbeitsbedingungen sind entscheidend. Effiziente Arbeitsorganisation, individuelle Teamabsprachen und intelligente Schichtmodelle können die Belastung der Mitarbeitenden reduzieren. Wenn Fachkräfte mit spezifischen Qualifikationen fehlen, könnten Mitarbeitende für einfachere Tätigkeiten rekrutiert werden. Quereinsteigende aus anderen Branchen können ebenso die bestehenden Fachkräfte unterstützen, die Leistungsqualität sichern und die Mitarbeitendenzufriedenheit steigern.

Geschäftsführende sollten in die Digitalisierung von Prozessen investieren und Mitarbeitende durch Automatisierung und digitale Lösungen entlasten. Robotik in der Produktion oder die digitale Abwicklung von administrativen Aufgaben wie Rechnungsstellung können hierbei unterstützen. Dies ermöglicht es den Mitarbeitenden, sich auf komplexere und kreativere Aufgaben zu konzentrieren.
 

Interview: Maximilian Kaiser

In dieser Reihe haben wir die selbstgewählten Personenbezeichnungen der Interviewpartner beibehalten.  Dadurch entstehen Unterschiede in der Genderschreibweise.

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